Gott und sein Sohn

Eine biblische Betrachtung von Wesenseinheit und Personenunterschied

Einleitung:
Das biblische Paradoxon der Einheit und Unterschiedenheit

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott, dem Vater, und Jesus Christus, seinem Sohn, beschäftigt Gläubige seit den Anfängen des Christentums. Die Bibel offenbart hier eine faszinierende Spannung, die unser menschliches Denken herausfordert: Einerseits bezeugt sie die vollkommene Einheit zwischen Vater und Sohn, andererseits zeigt sie eine deutliche Unterscheidung in ihren Rollen und Funktionen. Dieses scheinbare Paradoxon lädt uns zu einer tieferen Betrachtung der göttlichen Offenbarung ein, die uns helfen wird, das Wesen Gottes besser zu verstehen.
1. Wesenseinheit von Vater und Sohn
1.1 Die Ewigkeit des Sohnes
„Im Anfang war das Wort (ho logos), und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“ (Joh 1,1). Johannes enthüllt uns den göttlichen Ursprung des Logos (Wortes). Dieser Vers bezeugt die ewige, ungeschaffene Existenz des Logos und umschreibt sein einzigartiges Verhältnis zu Gott in einem dreifachen Bekenntnis:
- Ewiges Sein („Im Anfang war das Wort“): Das Verb ēn (war) verweist auf ewige Präexistenz. Schon vor dem Schöpfungsbeginn (1 Mo 1,1) existierte der Logos.
- Personale Gemeinschaft („...und das Wort war bei Gott“): Die Präposition pros („bei“, „hin zu“) beschreibt eine enge Beziehung voll inniger Vertrautheit. Der Logos ist von Gott unterschieden und steht ihm doch in ewiger Beziehung gegenüber.
- Wesenhafte Göttlichkeit („...und das Wort war Gott“): Dieses „war“ ist ein prädikatives Bekenntnis: Der Logos besitzt das Wesen Gottes (theos).

Johannes stellt klar: Das Wort (ho logos) und Gott (ho theos) sind zu unterschieden, doch das Wort ist auch Gott. Die wiederholte Betonung des Wortes „war“ (Vers 1 und 2) bezeugt die ewige Gegenwart des Logos „bei Gott“ – es entstand nicht „am Anfang“. Die schlichte Kraft dieser Worte genügt bereits, um die ewige, unerschaffene Gottheit des Sohnes zu bezeugen.
1.2 Die biblische Grundlage der Einheit
Wenn Jesus sagt: „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30), dann spricht er nicht von einer numerischen Identität, als wären sie ein und dieselbe Person. Vielmehr offenbart sich hier eine vollkommene Übereinstimmung in Natur, Wille und Macht. Der Apostel Paulus beschreibt dies, wenn er Christus als „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1,15) bezeichnet und feststellt, dass in ihm „die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt“ (Kol 2,9).
1.3 Die Dimensionen der Einheit
Die Wesenseinheit zeigt sich in drei zentralen Aspekten:
1. Gleiche Natur: „Und das Wort war Gott“ (Joh 1,1)
2. Gleicher Wille: „Nicht mein Wille, sondern der deine geschehe“ (Luk 22,42)
3. Gleiche Macht: „Alles, was der Vater hat, ist mein“ (Joh 16,15)

Dennoch ist und bleibt Jesus eine eigenständige Person, die stets in liebevoller Abhängigkeit vom Vater handelt.
2. Die funktionale Unterordnung des Sohnes
2.1 Die biblischen Belege
Diese funktionale Unterordnung des Sohnes zieht sich wie ein roter Faden durch das Neue Testament. Jesus betont: „Der Vater ist größer als ich“ (Joh 14,28) und „Der Sohn kann nichts von sich selbst aus tun“ (Joh 5,19). Diese Aussagen zeigen kein Minderwertigkeitsverhältnis, sondern die harmonische Ordnung von Vater und Sohn.
2.2 Die bleibende Unterordnung nach der Auferstehung
Manche fragen sich, ob sich dieses Verhältnis nach der Auferstehung geändert haben könnte. Doch die biblische Antwort ist klar:

- Nach der Auferstehung bekennt Jesus: „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17)
- In der Herrlichkeit sitzt er „zur Rechten Gottes“ (Mar 16,19; Apg 2,33)
- Im Endgericht übergibt der Sohn die Herrschaft wieder dem Vater (1 Kor 15,24-28)

Die Offenbarung Jesu Christi (Apokalypse) bestätigt und vertieft das neutestamentliche Zeugnis von der Einheit und zugleich Unterordnung des Sohnes unter den Vater. Während Christus als das Lamm Gottes (Offb 5,6) und als Herrscher der Könige der Erde (Offb 1,5) verherrlicht wird, bleibt die funktionale Unterscheidung zwischen ihm und dem Vater deutlich erkennbar.

Christus empfängt Offenbarung vom Vater
„Offenbarung Jesu Christi, die Gott ihm gegeben hat.“(Offb 1,1)

Exegetische Bedeutung:
- Die Offenbarung geht nicht direkt vom Sohn aus, sondern wird ihm vom Vater übergeben.
- Dies entspricht Jesu eigenen Worten: „Meine Lehre ist nicht mein, sondern dessen, der mich gesandt hat.“ (Joh 7,16)
- Die Weitergabe der Offenbarung zeigt eine klare Ordnung: Der Vater als Quelle, der Sohn als Mittler.

Jesus nennt den Vater „mein Gott“ (Offb 3,2.12)
„Ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes […] und meinen neuen Namen.“

Theologische Implikationen:
- Auch nach seiner Erhöhung spricht Jesus vom Vater als „mein Gott“ – wie schon in Joh 20,17 („ich fahre auf zu meinem Gott und eurem Gott.“)
- Dies belegt, dass die Unterordnung nicht nur während seines irdischen Dienstes, sondern ewig besteht.
- Gleichzeitig wird der Sohn selbst als Gott anerkannt (vgl. Offb 22,13: „Ich bin das A und das O“ – ein Titel, der in Offb 1,8 Gott selbst zugeschrieben wird).

Der Thron des Vaters und das Lamm (Offb 3,21; 5,6-7; 22,1)
„Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich mit meinem Vater auf seinen Thron gesetzt habe“ (Offb 3,21).

Symbolik des Thrones:

- Es gibt einen Thron Gottes (Offb 4,2), auf dem der Vater sitzt.
- Das Lamm (Christus) tritt hinzu (Offb 5,6-7) und empfängt die Herrschaft, aber nicht als unabhängiger König, sondern aus der Hand des Vaters.
- In Offb 22,1 wird der Thron Gottes und des Lammes erwähnt – eine Einheit in der Herrschaft, aber mit erkennbarer Unterscheidung.

Anbetung des Lammes – und doch bleibt der Vater der Ursprung
„Dem, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm sei Lob und Ehre und Herrlichkeit und Kraft in alle Ewigkeit!“ (Offb 5,13-14).

Liturgische Dynamik:

- Die himmlische Anbetung gilt sowohl dem Vater als auch dem Lamm.
- Doch selbst hier bleibt die Ordnung gewahrt: Der Vater wird zuerst genannt, das Lamm folgt.
- Dies entspricht Paulus' Aussage: „Wenn ihm [Christus] alles unterworfen ist, dann wird auch der Sohn selbst dem unterworfen sein, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott alles in allem sei“ (1Kor 15,28).

Das Reich gehört Gott und dem Christus
„Die Königsherrschaft der Welt ist unseres Herrn und seines Gesalbten geworden, und er wird herrschen in alle Ewigkeit.“ (Offb 11,15; 12,10).

Herrschaftsstruktur:
- Nicht Christus allein, sondern unseres Herrn [Gott] und seines Gesalbten [Christus] empfängt das Königreich.
- Dies bestätigt die ewige Rolle des Sohnes als Mittler (1Tim 2,5), auch in der vollendeten Herrschaft.

Fazit: Einheit in der Herrschaft – Unterschied in der Funktion

So zeigt auch das letzte Bibelbuch:
- Christus ist Gott (Anbetung, göttlicher Titel).
- Er bleibt aber in ewiger Beziehung zum Vater (Empfang der Offenbarung, Unterordnung unter „meinen Gott“).
- Diese Kontinuität zeigt, dass die Unterordnung Ausdruck einer ewigen göttlichen Ordnung ist, nicht eines vorübergehenden Zustands.
3. Der Heilige Geist als personifizierte Kraft Gottes
3.1 Das Wirken des Geistes
Der Heilige Geist offenbart sich als die persönliche Gegenwart und Kraft Gottes in der Welt. Die Schrift beschreibt ihn als aktiv Handelnden:
- Er redet (Apg 13,2)
- Er leitet (Röm 8,14)
- Er kann betrübt werden (Eph 4,30)
3.2 Sein Ursprung und Wesen
Jesus verheißt: „Ich werde den Beistand senden... der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht“ (Joh 15,26). Dabei ist er keine dritte separate Gottheit, sondern die personifizierte Gegenwart und Macht Gottes, die vom Vater durch den Sohn wirkt.

Diese Sicht bewahrt den biblischen Monotheismus ohne die Gottheit Christi zu leugnen oder das göttliche Wirken des Heiligen Geistes zu schmälern – und entspricht damit dem Glauben der ersten Christen.
4. Frühchristliche Interpretation
Die frühen Christen des ersten und zweiten Jahrhunderts reflektierten diese biblischen Aussagen auf ihre Weise.

Ignatius von Antiochien († ca. 110 n. Chr.) bekannte: „Es gibt einen Gott, der sich offenbart hat durch Jesus Christus, seinen Sohn.“ (Brief an die Magnesier 8,2). Ignatius betont damit die Göttlichkeit Jesu. (*Q1)

Justin der Märtyrer († 165 n. Chr.) erklärte: „Der Sohn ist ein anderer als der Vater … aber nicht durch eine Trennung der göttlichen Substanz." (Dialog mit Tryphon 128). Justin sieht Jesus als „zweiten Gott" unter dem Vater (im Sinne von Ps 45,7-8), aber nicht als geringer an Wesen. (*Q1)

Origenes († 254 n. Chr.) lehrte: „Der Sohn ist dem Vater untergeordnet, aber nicht geringer an Wesen." (De principiis I,3,5). Diese Aussage betont die ewige Unterordnung in Funktion, ohne die Wesensgleichheit zu leugnen.(*Q2)
5. Systematische Einordnung und praktische Konsequenzen
5.1 Abgrenzung zu späteren Lehrentwicklungen
Die biblisch fundierte Sicht bewahrt den Monotheismus der Schrift, ohne die Göttlichkeit Jesu zu schmälern. Sie unterscheidet sich von späteren trinitarischen Lehren dadurch, dass sie die einzigartige Stellung des Vaters als „des allein wahren Gottes“ (Joh 17,3) bewahrt, während sie gleichzeitig Christus als Gott bekennt (Joh 1,1; Heb 1,8).
5.2 Praktische Auswirkungen auf das geistliche Leben
Für unser geistliches Leben hat dies konkrete Konsequenzen:
1. Unser Gebetsleben: Wir beten zum Vater im Namen Jesu Christi (Joh 16,23)
2. Unsere Anbetung: Wir ehren Christus als unseren Herrn (Phi 2,10-11)
3. Unser geistliches Wachstum: Wir empfangen den Heiligen Geist als Gottes Kraft und Wirken in unserem Leben

Diese Sicht bewahrt uns vor verwischenden Grenzen und zeigt, wie in klarer Trennung gleichzeitig die tiefe Einheit der Gottheit strahlt.

Schluss: Die dreifache Perspektive der göttlichen Offenbarung
Letztlich lädt uns diese biblische Betrachtung ein, die Tiefe der göttlichen Offenbarung mit Demut und Ehrfurcht zu betrachten. Sie zeigt uns:

1. Einen Vater, der seinen Sohn sendet
2. Einen Sohn, der den Vater vollkommen offenbart
3. Einen Geist, der diese Liebe in unsere Herzen ausgießt (Röm 5,5)

Durch diese göttliche Offenbarung erschließt sich uns das Wesen Gottes in immer größerer Tiefe und führt uns zu wahrer Anbetung. Die Heilige Schrift gibt uns keine abstrakten Lehrformeln, wie sie in den späteren Jahrhunderten in den Konzilen festgelegt wurden, sondern sie zeigt uns das lebendige Bild eines liebenden Gottes, der sich der Welt zuwendet - im schöpferischen Ursprung des Vaters, im erlösenden Wirken des Sohnes und im verwandelnden Wirken des Geistes.

Diese Sicht bewahrt die Einheit Gottes, ohne die Gottheit Christi zu schmälern – genau wie es die ersten Christen lehrten.
Quellenangaben
*Q1-Die Apostolischen Väter (hg. von Joseph A. Fischer) – für frühchristliche Lehren
*Q2-Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte – zur historischen Entwicklung